Volkstrauertag 2024 - anders der Opfer der Kriege gedenken
Daniel Höra ließt aus seinem Buch „Braune Erde”
Sollte man besonders an die Opfer des Ersten und Zweiten Weltkrieges erinnern? Und wenn ja, wie? Diese Frage hat die Stadt Dillenburg und die anderen Mitveranstalter mit einem „JA” beantwortet. Am 14. November 2024 wurde eine Autorenlesung im Atrium der WvO durchgeführt – zum ersten Mal der Volkstrauertag im neuen Format.
Studiendirektorin Kerstin Renkhoff begrüßte als Gastgeberin die zahlreich erschienen Gäste und sie bedankte sich bei der Veranstaltungsgemeinschaft, bestehend aus der Stadt Dillenburg, der evangelischen und katholischen Kirchengemeinde, der GCJZ Dillenburg sowie der Johann-von-Nassau- und der Wilhelm-von-Oranien-Schule für die Vorbereitung des Abends. Bürgermeister Michael Lotz äußerte die Hoffnung, dass das neue Format des Begehens des Volkstrauertages so erfolgreich wird, dass man eine breite gesellschaftliche Basis für das Vorhaben in der Zukunft finden wird. Pfarrer Dr. Friedhelm Ackva, der für die evangelische und stellvertretend für die katholische Kirchengemeinde sowie die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dillenburg sprach, ging auf das im folgenden Programm vorgestellte Buch ein. Das dort beschriebene, fiktive Neonazi-Dorf Bütenow, so betonte er, könnte stellvertretend für alle Orte in der Bundesrepublik stehen.
Autorenlesung
Das mit mehreren Preisen ausgezeichnete Buch „Braune Erde” (2012) ist ein Jugendroman und handelt von dem 15-jährigen Ben, der seine Eltern bei einem Autounfall verloren hat. Er wächst bei seinem Onkel und seiner Tante in Bütenow auf – einem trostlosen, verlassenen mecklenburgischen Dorf.
In das Dorf zieht eine Neonazi-Familie ein. Relativ schnell gewinnt sie die Sympathie und Anerkennung der Dorfbewohner, denn sie bringt neue Ideen und Schwung in die Ortschaft. Zum Beispiel organisieren die Neonazis im neu hergerichteten Gemeinschaftshaus Feste, Tanzabende sowie Tee und Kuchen am Nachmittag; sie fahren Alte zum Arzt. Sie sind offen, hilfsbereit und sehen dazu noch gut aus. Die Neuankömlinge sind aber zugleich fest in der rechten Neonazi-Ideologie verankert und mit der Zeit führen sie immer mehr Nazi-Veranstaltungen und Aktionen durch. Ben faszinieren diese „Neusiedler” – er wird durch sie angezogen. Nur der aufgeklärte Künstler und Bens Freund Georg hält dagegen. Ben ist hin- und hergerissen und muss sich entscheiden ...
Höra zitierte in seiner Lesung einen der Neonazi-Anführer, Reinhold, um die Stimmung einzufangen:
„Dieses Land geht den Bach runter. Allein schon euer Dorf. Halb leer, runtergekommen, die Menschen arbeitslos. Und die Politiker interessieren sich nicht dafür, weil sie sich lieber die Taschen vollmachen. Wir Deutsche haben uns verkauft. Wir vergessen unsere Geschichte, unsere Traditionen, unsere Kultur. Seine Stimme war lauter geworden. ‚Alles ist schäbig und billig. Und wir sollen nur konsumieren und die Schnauze halten. Aber das wollen die Menschen nicht mehr.‘ Er beugte sich wieder vor, wobei er seinen Löffel schwang wie einen Taktstock. ‚Glaubst du, das wird noch lange gut gehen? Die Leute werden wütend, sie haben Angst.'“
Der Autor hat auch einige weitere Schlüssel-Stellen sehr eindrücklich vorgetragen und konnte so eine Atmosphäre voller Spannung aufbauen. Dabei modulierte er seine Stimme gekonnt und trug die ausgesuchten Passagen nach Rollen überzeugend vor. Sehr realistisch gestaltete er auch einige drastische Szenen, wie z.B. die „Verkehrskontrolle”, die Entführung und Scheinerschießung von zwei polnischen Studenten, die für Diebe gehalten wurden. Dieser Buchabschnitt wäre eines Drehbuchs für einen Spielfilm würdig: So groß war die Spannung und so brutal der Realitätsbezug dieses Buchfragments.
Das Publikum honorierte die Vorlesekünste des Autors mit lebhaften Beifall. Daniel Höra hat es verstanden, das Publikum emotional mitzunehmen, denn man hörte immer wieder während seines Vorlesens ein halblaut geäußertes: „Unglaublich!”, „Nein!” oder „Na, so was!”. Es war auch erfreulich festzustellen, dass von den über 200 Zuhörern etwa 70 Prozent Jugendliche waren, die sich im Anschluss rege an der Fragerunde beteiligten.
Ganz zum Schluss hob Daniel Höra sein Anliegen hervor: „Der Rechtsradikalismus ist quasi Religion - ein neuer Kult. Ich will mit meinem Buch davor warnen.”
Der Erfolg der Veranstaltung ist nicht zuletzt auch auf die gute Lektürenvorbereitung durch die Dillenburger Lehrer zurückzuführen. So kann in Zukunft ein Volkstrauertag in dieser neuen Form sicherlich weiter erfolgreich gestaltet werden – aber nur, wenn man die Jugend darauf gezielt vorbereitet.