Peking, Vietnam, Dillkreis – mit Abstechern nach Afrika und Sardinien
Christoph Nix liest und diskutiert mit dem Publikum an seiner alten Schule
Zwar ist Prof. Dr. jur. Dr. phil. Christoph Nix in Dillenburg wahrhaftig kein Unbekannter – liest er doch stets gern in der dortigen Buchhandlung Rübezahl, wenn er neue Veröffentlichungen parat hat – , diesmal aber fand seine Lesung im örtlichen Gymnasium, der Wilhelm-von-Oranien-Schule (WvO), statt. Fünfzig Jahre hat er seine frühere Schule, die er als Pennäler mit politisch provokanten Publikationen aufmischte, nicht von innen gesehen. „Ich bin ein bisschen aufgeregt, nach all den Jahren an diesen Ort zurückzukehren“, gestand Nix, wurde dann aber mit seinem Publikum in der gut besuchten Schulbibliothek rasch warm und startete eine literarische Tour D’Horizon durch seine Jugend im Dillkreis, seine Theaterprojekte in Afrika und sein neuestes Werk, einen literarischen Reisebericht durch Sardinien auf den Spuren Antonio Gramscis, des Mitgründers der Kommunistischen Partei Italiens.
Rund vierzig Besucher waren zur Lesung gekommen, davon nicht wenige treue Nix-Freunde aus Schul- oder Studienzeiten, die sich über das Wiedersehen sichtlich freuten. Aber auch aktuelle Schülerinnen und Schüler der WvO nahmen an der Lesung teil. Die Zwölftklässler hatten sich in der unterrichtlichen Vorbereitung insbesondere für den spannenden beruflichen Werdegang des Autors interessiert: Studium der Rechtswissenschaften in Gießen (u.a. gemeinsam mit dem heutigen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier), Strafverteidiger, Dozent an den Universitäten Gießen, Bremen, Kassel, Zürich und Bern sowie den Fachhochschulen Hannover und Potsdam, aber auch an der Universität der Künste in Berlin, Ausbildung zum Clown(!), Theaterintendant in Nordhausen, Kassel und Konstanz u.v.m.
Doch diese biografischen Stationen standen am Abend der Lesung weniger im Vordergrund, sondern eher die Schulzeit des 1954 in Ehringshausen geborenen Multitalents. Er besuchte zunächst das Dillenburger Gymnasium, wechselte dann aber in die Oberstufe des Herborner Johanneums. „Die hatten da einen sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt, das gab’s hier an der WvO damals nicht“, erklärte Nix seinen Zuhörern. Aber die anschließend gelesenen Kostproben aus seinen Erzählungen „Als hätten sie den Westerwald mit Olivenbäumen bepflanzt“ (1983) und seinem autobiografischen Roman „Junge Hunde“ (2008) thematisierten auch seine wilden Dillenburger Jahre. Jugendliche Tagträume über Pamela, die unnahbare Bedienung der einzigen italienischen Eisdiele vor Ort, Briefkorrespondenzen des Nachwuchs-Klassenkämpfers Nix mit kommunistischen Gesinnungsgenossen in Peking, nächtliches Parolenschmieren gegen den Vietnamkrieg, Verteilen von Flugschriften der „Roten Schülerfaust“ an der Schule, was zu erheblichem Ärger inklusive Gerichtsverhandlung vor dem hiesigen Amtsgericht führte, wo allerdings der Prozess mit einem Freispruch und einem brennenden Sakko des Zeugen endete – der geladene Oberstudienrat hatte sich vor lauter Nervosität die glimmende Zigarre in die Tasche gestopft.
Die damaligen Weltverbesserungsentwürfe im Geiste der 68er und sein Bemühen, gemeinsam mit Schulfreunden den neuen Ideen auch im provinziellen Dillkreis Gehör zu verschaffen, betrachtete Nix zwischen den gelesenen Textproben mit einem Schmunzeln über die gehörige Portion jugendlicher Naivität: „Von heute aus betrachtet ging es ja nicht nur um Politik. Es war eine bestimmte Form von Lebensgefühl, wir wollten dazu- und zusammengehören und anders sein als die spießigen Erwachsenen.“
Trotz dieses nüchtern-nostalgischen Resümees ist bei Christoph Nix aber ein „roter“ Faden aus der Schüler-Vergangenheit erhalten geblieben, nämlich sein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und sein Herz für die, welche durch Zufall oder Unrecht auf der Schattenseite des Lebens gelandet sind. Das wurde an dem Abend deutlich, als er zwar nur kurz, aber eindrücklich seine Afrika-Trilogie vorstellte. In den Romanen „Muzungu“ (2018), „Lomé. Der Aufstand“ (2020) und „Kongotopia“ (2023) setzt er sich mit der postkolonialen Geschichte Afrikas in Krimi-Form auseinander. Aus diesen Büchern las Nix bei seinem Abend an der WvO nicht vor, erzählte aber eindrücklich von seinem Theaterprojekt in einem afrikanischen Gefängnis. „Theaterspielen kann Menschen helfen, schreckliche Erlebnisse zu verarbeiten, Unsagbares zum Ausdruck zu bringen.“
Der letzte Text, aus dem Christoph Nix vorlas, war sein neuestes Werk, eine Art literarischer Reiseführer über seine Lieblingsinsel Sardinien. „Gramscis Geist. Ein sardisches Tagebuch“ folgt der Spur Antonio Gramscis, einer der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. Nix beleuchtete aber weniger das politische Wirken Gramscis, sondern eher sein leidvolles Leben sowie die literarischen Spuren, die er hinterlassen hat; u.a. übersetzte er Grimms Märchen ins Italienische.
Am Schluss des Abends juckte es den Bühnen-Profi Christoph Nix nochmal, sein Publikum aufzurütteln und in die Diskussion über das Gehörte einzusteigen. Provokant, aber augenzwinkernd lockte er insbesondere die anwesenden Schüler aus der Reserve, sich mal zum Zustand ihrer Stadt Dillenburg, zur schulischen Bildung oder zur politischen Gesamtlage zu äußern. Den zugespielten Ball nahmen jedoch zunächst eher Nix‘ Altersgenossen im Publikum auf und bedauerten, dass heutzutage kaum noch offen, tiefgründig und politisch diskutiert werde. Die Jugend „daddele“ lieber am Smartphone, als mit dem Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Zum Glück wurde das drohende „Generationenbashing“ aber von gegenteiligen Wortmeldungen aus dem Publikum gestoppt; und auch Nix las ein kurzes Zitat aus einem Chatverlauf mit seinem Enkel vor: Von Politikverdrossenheit und Gleichgültigkeit war da keine Spur.
Dem Urteil der Schülerinnen und Schüler über den Leseabend hatte die kontroverse Schlusskurve kaum geschadet. In der unterrichtlichen Reflexion am nächsten Morgen lautete ein Feedback: „Der Diskussionsteil war komisch, weil die älteren Leute über eine Zeit geredet haben, von der ich keine Ahnung habe, und dann unsere Meinung hören wollten. Aber die Lesung von Christoph Nix war amüsant, wegen der lustigen und spannenden Geschichten, wie es früher in Dillenburg gewesen ist“.