Die Opfer nicht ein drittes Mal töten
Renate Steinseifer liest aus ihrem Buch „Die Flucht aus Haiger“
Sollten wir uns heute an alte Geschichte vor fast 100 Jahren erinnern? Wer waren die jüdischen Mitbürger in Haiger? Was geschah mit ihnen? Sind wir Juden und Israel verpflichtet? Diese und viele weitere Fragen stellte Renate Steinseifer bei ihrer Autorenlesung in der Wilhelm-von-Oranien-Schule zur Diskussion. Eingeladen hatte die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und die Schule.
Über 70 Zuhörer hatten sich eingefunden, um den Vortrag der Buchautorin zu hören. Frau Steinseifer nahm ihre Zuhörer mit auf eine musikalisch-literarische Reise, die in Deutschland beginnend über mehrere Länder führte – je nach Schicksal der zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgten Haigerer Juden. Zeitlich erstreckte sich die Reise über gut ein Jahrhundert und endete im Hier und Heute. Es wurden nicht nur die Familiengeschichten der Haigerer Juden dargestellt, sondern auch jüdische Schicksale aus Dillenburg und Herborn. Zum Beispiel wohnten im Jahr 1933 in Dillenburg – laut Quellen – drei jüdische Mitbürger. Es gab einen jüdischen Gemüsehändler Namens Schmitz und einen jüdischen Fleischhändler Süßkind. Mit dem Studienrat Dr. Paul Moses Schott gab es aber auch einen jüdischen Akademiker. Dieser unterrichtete seit dem Jahr 1914 am Dillenburger Gymnasium (der heutigen Wilhelm-von-Oranien-Schule) und war aufgrund seiner Menschlichkeit und Gutmütigkeit unter den Schülern sehr beliebt. Eine Frankfurter NS-Zeitung bezeichnete es als „Skandal“, dass ein jüdischer Lehrer arische Kinder unterrichte. Ende März 1933 wurde Schott vom Dienst suspendiert. Er zog psychisch angeschlagen nach Frankfurt am Main um, wo er 1936 verstarb – wahrscheinlich durch Selbstmord.
Renate Steinseifer beschreibt in ihrem Band „Die Flucht aus Haiger. 6 Länder und das 7. ist kein Land zum Leben“ die Schicksale der Haigerer Juden seit ca. 1860. Die jüdische Gemeinde in Haiger wurde aber aufgrund der zu geringen Anzahl der Mitglieder erst 1912 gegründet. Im Jahr 1932 zählte sie insgesamt 48 Juden. Im Sommer 1940 ging die jüdische Geschichte in Haiger zu Ende. Die letzten Juden Abraham Herz mit seiner Ehefrau Hilda und der Enkelin Inge verließen die Stadt, um in Frankfurt/Main eine kurze Bleibe zu finden, bevor sie über die Sowjetunion in die USA emigrierten.
Im Buch werden die Geschichten folgender Familien geschildert: Fam. Siegmund Hirsch, Fam. Hermann Hirsch, Fam. Hermann Herz, Fam. Abraham und Hilda Herz, Fam. Hermann und Gidda Strauß.
Einigen Familienmitgliedern ist die Migration gelungen; andere wurden deportiert und in die Konzentrations- bzw. Vernichtungslager gebracht. Im Buch werden zehn Haigerer Juden namentlich genannt, die in den Vernichtungslagern ermordet wurden: die Hälfte in Sobiór - die andere Hälfte in Treblinka und Auschwitz.
Renate Steinseifer stellt nicht nur die von ihr recherchierten Informationen über die Haigerer Juden vor, sondern gewährte auch Einblick in ihre Motivation, sich mit dem Thema zu befassen und bezog klar Stellung zu unserer Aufgabe heute. Dabei bezog sie sich auf ein Zitat von Eli Wiesel: „Erst hat der Feind die Juden getötet, dann ließ er sie in Rauch und Asche aufgehen. So wurde jeder Jude zweimal umgebracht. In jedem Vernichtungslager mussten Spezialtrupps von Gefangenen die Leichen ausgraben und sie dann verbrennen.
Heute versucht man die Opfer ein drittes Mal zu töten, indem man sie ihrer Vergangenheit beraubt.“
Unsere Generation sowie die kommenden stünden in der Pflicht, das Erinnern an die Shoah-Opfer zu pflegen, damit die Opfer nicht in Vergessenheit geraten, damit sie eben nicht zum drittem Mal sterben, so Steinseifer.
Von 2010 bis 2018 hat Renate Steinseifer – mit einigen krankheitsbedingten Unterbrechungen - für das Buch recherchiert. Die Recherche bestand u.a. aus Zeitzeugengesprächen, Archiv- und Internetrecherchen sowie aus der Auswertung von Familienkorrespondenzen. Dabei stellte sie fest, dass einige Zeitzeugen auch so viele Jahrzehnte nach dem Krieg nichts zum Thema Juden aussagen wollten. Erst mit der Zeit hätten sich einige Zeitzeugen (aber nicht alle) der Thematik nach und nach geöffnet.
Die Motivation der Buchautorin, aber auch den Tenor der anschließenden Diskussion mit dem Publikum fasst am besten ein Urenkel des ehemaligen Haigerer Juden Siegmund Hirsch zusammen. Hier das Zitat von Ron Volk aus seinem Vorwort zum Buch von Renate Steinseifer: „Meine Familie war sehr stolz, deutsch zu sein. Meine Familie kämpfte für Deutschland in dem Französisch-Preußischen Krieg 1870/71. Sie kämpften und manche starben im Ersten Weltkrieg. Sie liebten Deutschland und hätten es nie verlassen, wenn die Nazis sie nicht gezwungen hätten zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Die Juden waren gute Bürger und jahrhundertelang ein Gewinn für die deutsche Gesellschaft. […] Es gibt keine Schuld für die einzelnen Deutschen heute oder für die, die in der nationalsozialistischen Zeit geboren wurden oder noch nicht lebten. Jedoch haben die heutigen Deutschen und das heutige Deutschland eine moralische Pflicht, daran zu erinnern, was geschah. Sie müssen dafür sorgen, für die Wahrheit einzustehen gegenüber denen, die den Holocaust leugnen oder Falschaussagen darüber machen. Sie müssen sicherstellen, dass sie alles, was sie können, auch tun, dass eine solche Tragödie nicht noch einmal in Deutschland oder irgendwo in der Welt geschieht.“
Renate Steinseifer (l.) wird begrüßt von Martina Klement (r.) von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Die Autorin (Mitte) mit Martina Klement (l.) von der GcjZ und Kerstin Renkhoff (r.), Schulleitungsmitglied an der Wilhelm-von-Oranien-Schule
Renate Steinseifer las aus ihrem Buch „Die Flucht aus Haiger. 6 Länder und das 7. ist kein Land zum Leben“